Nagelprobe

Anstand und Ehrlichkeit gehören zu den letzten wirklichen Luxusgüter auf dieser Welt. Man erkennt dies am besten daran, daß man bis aufs Blut gehaßt wird, sobald man sich damit schmückt.

Historische Kontinuität

Frieden wird dem Volk verkündet. Alle jubeln. "Der Krieg ist zu Ende!" rufen sie sich im Freudentaumel gegenseitig zu.

"Wer hat gesiegt?" fragt der Weise.

"Niemand", wird gesagt, "wir haben Frieden geschlossen!"

"Dann ist der Krieg auch nicht zu Ende, Ihr werdet sehen."

Enttäuschung

Es gibt Tage, da wacht man mit dem Gefühl auf, daß etwas besonderes in der Luft liegt. Daß das Leben eine völlig neue Wendung nehmen wird.

Hinterher stellt man fest, daß draußen halt der erste Schnee liegt. Oder daß die Katze eine mittelgroße Feldmaus ins Haus geschleppt hat und mit ihr auf dem Wohnzimmerteppich spielt.

Tödlicher Trugschluß

"Es ist leicht und angenehm, die Wahrheit zu sagen" behauptet der Held eines Romans und macht diese seine Drohung wahr. Bereits vorher denunziert und verhaftet worden, wird er daraufhin verprügelt, gekreuzigt und letztendlich hingerichtet.

Nein, die durch diesen leichtfertigen Umgang mit der Wahrheit hervorgerufene Situation war nicht einmal für diejenigen leicht und angenehm, die dem Helden all diese schrecklichen Dinge angetan haben. Und für den Helden selbst erst recht nicht.

Seien Sie aber beruhigt. So etwas schlimmes kommt natürlich nur in Büchern vor.

 

Splitter

In einem Land meiner Kindheit... barfuß auf kühlem Lehm... unter dem betörenden Duft eines Walnußbaumes.

Erinnerung? Traum? Traum einer Erinnerung?

 

Terraforming

Sollten unsere amerikanischen Cowboys irgendwann mal so in großem Stil den Weltraum erobern und partout keinen bewohnbaren Planeten finden, so würden sie noch lange keinen Grund darin sehen, um auf die Kolonisierung des Alls zu verzichten. Man kann ja irgendeinen Himmelskörper zurechtschustern, oder? Mit dem dieser Nation eigenen Unternehmungsgeist würden sie diesen Himmelskörper mit Atmosphäre, eigener Sonne, Klimaanlage, nützlichen Lebewesen, Disneyland, Highways und dem Namen Terra II ausstatten. Schließlich muß man sich wie Zuhause fühlen. Das nennt sich dann Terraforming. Natürlich geht so was gelegentlich auch schief und wird unkontrollierbar, wie wir dies gerade auf der Erde erleben... wobei hier die Bedingungen viel schwieriger waren: man konnte mit dem Gestaltungsprozeß nicht bei Null anfangen und alles neu machen! Es waren viel zu viele Altlasten der Natur zu bekämpfen.

 

Imitation

Die Löwin räkelte sich im trockenen und staubigen Gras. Dann schwang sie sich in Katzenmanier von einer Seite auf die andere. Sie gähnte genüßlich und zeigte dabei ihre riesigen Fangzähne. Jetzt lag sie ruhig da mit dem gelben Blick verloren in der Ferne. Langsam fuhren die Krallen ihrer rechten Pfote immer wieder aus und ein. Dabei deuteten sich bis hin zum kräftigen Hals geschmeidige Muskeln an.

Sie hatte einen Liebesbrief vom Warzenschwein erhalten.

Hätte diese Geschichte eine Moral (was nicht der Fall ist), dann wäre sie eine Fabel.

 

Anmaßung

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Monstren" hat der Maler Goya gesagt. Ich wünsche, er wäre bei seiner Malerei geblieben. Die Vernunft hat uns die Euthanasie, die Atombombe und die Patentrechte auf Lebewesen beschert. Vielleicht wäre doch besser gewesen, wenn sie geschlafen hätte?

 

Logische Täuschung

Als gerade wieder Meldungen über ein gegenseitiges Abschlachten von irgendwelchen Völkern, Stämmen oder religiösen Gemeinschaften auftraten, fragte ein englischer Journalist ernsthaft, was wohl schlimmer war, der Kolonialismus an sich oder seine übereilte Abschaffung.

Diese spitzfindige Frage ist deswegen so gefährlich, weil sie sich absolut vernünftig anhört, obwohl sie im grundgenommen einen Nonsens darstellt. Wie die Werbung eines Pay-TV Senders für sein werbefreies Programm.

 

Die Falle

Vorsicht: Geschenke sind immer mit Erwartungen verbunden, auf beiden Seiten. (So vielleicht auch die Zeilen, die Sie gerade lesen.)

 

Reine Einbildung

Auf der einen Waagschale die Vergangenheit, auf der anderen die Zukunft... der Ausgang dieses Experiments ist ungewiß, so oft man es auch versucht.

Und die Gegenwart? Ist sie etwa das Zünglein an der Waage? Um Gottes Willen, nein! Die Gegenwart, die gibt es nämlich gar nicht wirklich, nicht in der Physik und nicht im Gefühlsleben des Menschen. Lassen Sie sich bloß nichts aufschwatzen.

 

Martin Luther

Er würde, auch wenn er wüßte, daß morgen die Welt untergeht, ein Bäumchen pflanzen. Aus dem Zusammenhang gerissen ist die angekündigte Handlung von einer monströsen Sinnlosigkeit.

Und außerdem eine glatte Anmaßung, weil schlicht und einfach niemand die Erfahrung, die zu einer solchen Behauptung berechtigt, gemacht haben kann.

Es liegt mir aber fern, mich mit Martin Luther auseinanderzusetzen.

Was mich wirklich stört ist, daß die meisten Mitmenschen seine Aussage wortwörtlich nehmen.

Eine meiner Horrorvisionen ist, daß morgen tatsächlich das Ende der Welt sein sollte. Und daß Millionenscharen von Menschen, jeder in einer Hand ein Apfelbäumchen und in der anderen einen Spaten tragend, um einen geeigneten Platz zum Pflanzen kämpfen würden. Die Vorstellung, die dahintersteckt, erschrickt mich und macht mich wütend. Sie gehört zum Ballasterbe der Menschheit.

 

Binsenweisheit

Zwei gesellschaftliche Gruppen behindern die Emanzipation der Frauen am meisten:

die Männer    (zu 48,9%)

die Frauen     (zu 50,9%)

 

Die alternative Relativitätstheorie

Karl Valentin (für die Jüngeren unter uns deutscher Komiker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) soll mal gesagt haben: "Die Zukunft war früher auch besser"

So etwas hintersinniges traut man einem Komiker gar nicht zu, oder?

 

Spaziergang

Durch unberührten Schnee laufen und auf der eigenen Spur zurückkehren: eine sonderbare Erfahrung. Ich betrachte jedes Mal meine Fußabdrücke mit dem beklemmenden Gefühl, daß ich mir selbst von außen und aus der Zukunft zusehe.

 

Diskrepanz

Vor kurzem wurde ich von jemandem ein "schlechter Verlierer" genannt, wohl als Rache dafür, daß ich mir seinen Standpunkt nicht zu eigen machen wollte.

Also, ich bin bereit, meine Schlechtigkeit sofort einzugestehen.

 

Vertrackte Situation

Die Verhaltensforschung hat festgestellt, daß beim Menschen das Gefühl für Raum und Zeit angeboren ist. Kann man unter diesen Umständen die Realität noch "objektiv" erfassen? Obwohl ich diesem (wie übrigens jedem anderen) Gefühl reale Existenz einräume, werde ich daraufhin noch lange nicht annehmen, daß die damit verbundenen physikalischen Begriffe mehr als eine Modellvorstellung, sprich real, sind.

 

Selbstregulation

Als die EDV Ära begann, drohte die ohnehin große Kluft zwischen den hochentwickelten Ländern und der Dritten Welt noch größer zu werden.

Dann passierte aber etwas unerwartetes.

Der menschliche Spieltrieb gewann die Oberhand. Mit der Erfindung von PC und Internet wurde eine dermaßen wirksame Fortschrittsbremse geschaffen, daß wir uns vorerst keine Sorgen mehr zu machen brauchen.

(Es wäre zu hoffen, daß die Dritte Welt diesen Weg nicht gehen wird, denn an Informationshunger ist noch keiner gestorben. Ich bin jedoch skeptisch.)

 

Entschlüsselung des menschlichen Genoms

Jetzt wissen wir es.

Unsere Gene sind zu 50 % identisch mit denen der Bierhefe.

Lassen Sie mich nur kurz überlegen... wenn dies stimmt, dann -schätze ich mal- kommen die Würmer auf 61, die Weichtiere auf 63, die Schlangen auf 77, die Ratten auf 86, die Schweine auf 89, die Hunde auf 92 und die Affen auf 98 Prozent Übereinstimmung.

Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

 

PS Entschlüsselt? Wir haben das Buch und das Alphabet, kennen die Sprache aber nicht...

 

Traum (I)

Allein in einem fremden Haus versuche ich, etwas über den Besitzer herauszufinden, indem ich Schränke aufmache, Schubladen durchstöbere, Bilder umdrehe, Büchertitel lese. Ich finde überall nur Zeichen meines eigenen Lebens.

 

Einsam und verlassen im All?

Die mentale Beschäftigung mancher (Pseudo)Wissenschaftler mit außerirdischen Zivilisationen (bisher ist nämlich weit und breit kein Hinweis auf deren Existenz gefunden worden) ist wenigstens zum Teil eine religiöse Ersatzhandlung. Der verängstigte Mensch (auch Wissenschaftler gehören nun mal zu dieser Tierart, obschon es nicht immer den Anschein hat) sucht unentwegt nach Hilfe und Erlösung. Und hier unten ist kein Paradies in Sicht, so weit das Auge reicht. Im Gegenteil: das Gefühl, daß man es gründlich vermasselt hat, macht sich langsam breit... am liebsten würde man alles liegen lassen und neu anfangen! Aber wie? Und wo? Und wer hilft uns dabei?

Darüber hinaus ist das Thema sehr medienwirksam. Sie glauben gar nicht, was man sich daraufhin alles selber einreden kann.

 

Genugtuung

Die Militärmaschine, die den Verteidigungsminister Wieheissterdochgleich irgendwohin fliegen mußte, ist ohne ihn abgeflogen.

Die Luftwaffenpressestelle bestreitet, daß der oberste Dienstherr und illustre Passagier einfach vergessen wurde, sie räumt jedoch "Planungsmißverständnisse" ein. (Es erstaunt mich immer wieder aufs Neue, daß die hölzerne Sprache der Militärbürokraten doch so dehnbar ist.)

Welch ein Glück, daß Euphemismen in unserer zivilen Welt nichts zu suchen haben! Hier ist kein Platz für Sprachakrobatik, hier zählen bekanntlich nur die Fakten.

 

Verhindertes Photo

Ein Paar Gartenhandschuhe liegen auf einer Steinmauer, Innenfläche nach oben. Indem sie die Form der Menschenhände behalten haben, scheinen sie deren Kraft und Wärme immer noch zu beherbergen.

Dieses Bild verkörpert das Menschliche mehr als jedes Abbild eines Menschen.

 

Eine kleine antifeministische Geschichte

ER (intellektuell angehauchter Pantoffelheld, hat im Brecht-Jubiläumsjahr gerade die "Kalendergeschichten" wiedergelesen): "Einfach genial, der Brecht. Gibt’s nicht noch mal, so was"

SIE (überzeugte Feministin, verächtlich): "Dabei weißt Du nicht einmal, ob die Geschichten wirklich von ihm sind. Der hielt sich Frauen, die ihm hörig waren. Vieles von dem, was unter seinem Namen veröffentlicht wurde, haben diese armen Kreaturen geschrieben. Er hat sie restlos ausgenutzt, hat ihnen nicht nur das Geld und die Liebe gestohlen, sondern auch die literarische Schöpfung"

ER denkt irgend etwas in Richtung "Um so genialer, wenn Du mich fragst!", sagt aber vorsichtig: "Du weißt ganz genau, daß ich nicht den Menschen, sondern den abstrakten Autor Brecht meine."

Männer sind halt feige, da kann man nichts machen.

 

Optimistische Prognose

Irgendwann werden unsere Nachfahren das weltweite Verbot des Tourismus erleben und es nachträglich wie den Beginn einer neuen Ära empfinden.

(Danach werden die Menschen nämlich nur noch virtuell reisen)

 

Messianisches

Die großen Religionen haben ihre Lebenskraft und Virulenz ziemlich eingebüßt, der Islam noch am wenigsten. Auf die Dauer hat aber auch der Islam keine Chance: er hat schon längst seine reaktionäre Phase erreicht.

Die nächste Weltreligion wird -wie ich meine- auf dem Boden der virtuellen Realität entstehen, ihre Kirche wird eine Art Chatroom im Internet sein. Alle Voraussetzungen sind also schon erfüllt, allein der Verkünder läßt noch auf sich warten. Der Flächenbrand wird dann die Scientology Church wie eine kleine, unbedeutende Episode aussehen lassen.

 

Animal Farm

Orwells Schafe glauben: "Vier Beine guhuhuhuhut! Zwei Beine schlehehehecht!"

Wir Menschen sind natürlich klüger und sehen die Sache viel differenzierter. Wir glauben z.B.: "Kroaten guhuhuhuhut! Serben schlehehehecht!", manchmal das Gegenteil davon und manchmal gar nichts.

 

Tirade

Die Hälfte der Menschheit erzählt unermüdlich der anderen Hälfte wahre Geschichten aus ihrem Leben. Oder sie hält dieser freundschaftlich den Spiegel vor, um sie mit der eigenen Realität zu konfrontieren. (Also würde auf jeden Fall die Hälfte der Menschheit auch dann Todesqualen erleiden, wenn man alle anderen Unglücke der Welt beseitigen könnte.)

Auch wenn man Wahrheit darin finden kann, ist die Realität selbst noch lange keine Wahrheit. Sie kann uns keine Erleuchtung bringen, sondern lenkt uns nur ab.

Interessant ist sie erst recht nicht. Realität ist entweder banal oder verästelt und unglaubwürdig. Häufig ist sie auch abstoßend.

 

Ungewißheit

Ich habe viele prachtvollen Sonnenaufgänge gesehen, dabei jedoch noch nie den Zauber des Sonnenuntergangs verspüren können. Ist dies ein meteorologisches Phänomen oder einfach Sinnestäuschung durch die Faszination des Unterganges?

 

Bild

Das gelbe Licht aus dem Fenster zeichnete Leitersprossen im Schnee. Grobe Eiskristalle glitzerten wie glutheiße Diamanten. Um das Fensterlicht herum konnte man in der Dämmerung gerade noch die Struktur der grauen Holzwand erahnen. Der Himmel war im Westen noch leicht golden gefärbt und wechselte in Richtung Osten die Farbe über türkis und violett bis hin zu blauschwarz. Es waren schon die ersten Sterne zu sehen. So viel Farbe in einer Winternacht.

 

Blickwinkel

"Frank Zappa: unartig, manchmal genial. Ein Salvador Dali der Popmusik" war die etwas exaltierte Meinung eines Kritikers und Zappa Fans.

Ein noch größerer Fan schreibt als Antwort (um das Ganze ins richtige Licht zu rücken): "Salvador Dali: unartig, manchmal genial. Ein Frank Zappa der Malerei."

Artig schauen die zwei Genannten vom Himmel herab.

 

Eine andere Sicht

Jorge Luis Borges schreibt über das Buch "Morels Erfindung/Fluchtplan" von Adolfo Bioy Casares: "Ich habe dieses Buch gelesen. Ich habe mich unzählige Male mit dem Autor über sein Schema unterhalten. Ich glaube, behaupten zu können, das es perfekt ist."

Ich habe dieses Buch auch gelesen. Ich weiß nicht, ob irgendwas daran perfekt ist. Ich weiß nur, beim Lesen wurde es mir schwindelig, als würde ich die Welt aus einem hohen Kirchturm betrachten.

 

Grotesque

Mancher Zeitgenosse bezieht alles, was um ihn herum geschieht, in einer ganz eigentümlichen Weise auf die eigene Person, als gäbe es auf dieser Welt nur ihn selbst, seine Ignoranz, seine mickrigen Gefühle und seine verschrobene Vorstellung von der Wirklichkeit.

(Schwaches Beispiel: neulich erzählte jemand, er hätte sich zur Ramadanzeit die Finger wundgewählt, Rabat hätte er trotzdem nicht gekriegt. Sein Gegenüber pflichtet ihm sofort bei: so sei es mit der Deutschen Telekom. In der wirklich freien Marktwirtschaft klappt es aber immer. Im Supermarkt kriegt ER die Rabattmarken nachgeschmissen.)

 

Ewiger Dilettantismus

Die meisten Menschen schlagen sich in ihrem Leben ziemlich stümperhaft durch.

Lebenserfahrung ist nicht vererbbar. Der Versuch, sie durch Bildung zu vermitteln, ist vom Prinzip her zum Scheitern verurteilt. Dabei bedarf es nicht erst des Generationskonfliktes: das Karussell der gesellschaftlichen Veränderungen, also die Verwandlung des Lebens selbst, macht diese Aufgabe ohnehin undurchführbar.

 

Die Augen

Sie schaut mich manchmal an mit dem Blick eines fünfjährigen Kindes. Intensiv und andauernd, unverhohlen prüfend und bewertend. Ich lese darin aber auch Gewißheit, Verständnis und Trauer.

 

Die Untoten

1989/90 im Osten. Sie sind nach 35 Jahren wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht. Haus, Dorf und Land waren eine einzige Ruine, überall Rost, Moder und Verfall. Die Gesellschaft schien eine katastrophale Überschwemmung erlitten zu haben: Unrat war hochgespült, Ideale im Schlamm erstickt. Sie selbst waren ruiniert, verbittert und schwach. Die Rettung kam zu spät, so wie damals für manchen KZ Überlebenden, sie waren nun dem gesellschaftlichen Tode geweiht. Gulag und Exil leisten stets ganze Arbeit.

 

Fehlleitung

Erfolgreiche Tierarten wie Ratten, Heuschrecken und Ameisen beziehen ihre Kraft zum größten Teil aus der selbstzerstörerischen Neigung der einzelnen Individuen. Sie haben dadurch die ganze Welt erobert, während andere Spezies nur eine kleine Nische haben besetzen können.

Im Kampf gegen andere Spezies blieb es dem Menschen weitgehend erspart, auf solche Mittel zurückgreifen zu müssen, dazu war er den anderen Tieren viel zu weit überlegen. Und dennoch setzt er gelegentlich selbst diese Waffe ein, und zwar im Kampf gegen andere Menschen: er führt dann Krieg.

 

Objektive Abhandlung des Subjektivismus

Natürlich kann man die Realität nur mit den eigenen Sinnen begreifen. Ist also alles subjektiv? Ja, aber: große Geister reflektieren das Erfaßte, sie sind kritisch und selbstkritisch zugleich, ja unsicher. Indem sie zweifeln, öffnen sie sich für die Wahrheit. Kleine Seelen hingegen verhalten sich wie ein Walzwerk. Welche Form das rohe Metallstück auch haben mag, es wird hinterher immer zu einem glatten Blech.

 

Zweidimensionale Welt

Menschen, die nirgendwo heimisch sind, suchen ihr Heil auf Homepages. Das Zweidimensionale kommt ihrem Geist besonders entgegen.

Noch besser wäre natürlich etwas eindimensionales, ein Strich eben... wobei jedoch auch eine Linie den Geist überfordern kann: sie kann nämlich irgendwohin führen. Sogar in zwei Richtungen! Es lebe also das Nondimensionale! Es lebe der Punkt! Punkt de. Oder Punktwasauchimmer.

 

Traum (II)

Die Strasse fährt geradeaus, sie steigt unentwegt. Ich habe schon lange das Gefühl, daß es eigentlich nicht mehr weiter nach oben gehen kann. Die Fahrbahn ist durchsichtig, so daß ich die schwindelerregende Höhe, in der ich mich befinde, körperlich spüren kann. Eine offene Landschaft tut sich auf einmal auf. Ein riesiges Gebäude mit einem großen Parkplatz davor erstreckt sich über die ganze Breite des Horizonts. Das Dach ist nicht sichtbar, sondern hoch im diesigen Himmel verborgen. Das gelbe Sonnenlicht kommt in einem schrägen Winkel von links unten. Zahlreiche zuckerhutförmige, fensterlose Konstruktionen aus grobgehauenen, mit Gras bewachsenen Granitsteinen, zerteilen den Parkplatz. Sie sind etwa zehn Meter hoch. Am Fuße jedes Zuckerhuts rinnt aus einem kleinen Loch Jauche heraus.

Ich suche auf diesem Parkplatz mein Auto, in der Gewißheit, daß ich es gar nicht finden kann.

 

Zugeständnis an Murphy

Sie kennen alle die Sache mit dem Regenschirm. Man trägt das verdammte Ding ständig bei sich, ohne es je zu brauchen. Und ausgerechnet dann, wenn man es gerade vergessen hat, gießt es in Strömen.

Das wirkliche Problem fängt aber erst jetzt an: anstatt daß wir uns auf die Hinterbeine stellen und dieses gemeine Utensil zum Teufel schicken, resignieren wir und tragen es weiter.

Auf diese Art und Weise wird die Menschheit zu nichts kommen, das werden Sie noch sehen.

 

Traum (III)

Das mehrstöckige Gebäude hat auf jeder Ebene einen langen und dunklen Korridor. Spärliches Licht gelangt allein durch Fenster an beiden Enden herein. Hin und wieder wird eine der vielen Türen aufgemacht, das Gegenlicht macht dann die Sicht noch schwieriger, die Konturen verlieren die Schärfe wie im Nebel. Lautes Gelächter ist zu hören.

In unzähligen Räumen suche ich nach meinem Bett. Viele der Türen, die ich aufmache, führen zu Gemeinschaftsräumen wie Duschen oder Toiletten. Letztendlich finde ich das richtige Zimmer, ich kann es jedes Mal an irgendwelchen Details eindeutig erkennen. Menschen mit verschwommenen Gesichtern blicken mich wortlos an. Mein Bett ist nicht drin.

 

Panem et circenses

Reality TV bietet immer noch keinen vollwertigen Ersatz für Gladiatorenkämpfe und menschenfressende Löwen (auch wenn die Menschenwürde nicht viel besser dran ist als vor 2000 Jahren). Will man so richtig Blut sehen, dann muß man ins Kino gehen oder Boxen angucken. Ich habe aber gehört, daß Hundekämpfe groß im Kommen sind.

 

Widerstand

Einmalmehr überfliege ich mit United Airlines die endlos scheinende Ebene zwischen Chicago und Indianapolis. So weit das Auge reicht, Ackerland. Die Scholle ist in quadratischen Feldern eingeteilt mit der Abmessung von etwa einem Kilometer. Dazwischen asphaltierte Strassen, die sich wie mit dem Lineal gezogen bis zum Horizont erstrecken. Die Regelmäßigkeit dieses Netzes ist auf den ersten Blick erschreckend.

Schaue ich genauer hin, da entdecke ich doch kleine Abweichungen. Hier ist ein Haus darauf, da ein Baum und dort ein Bach. Weiter entdecke ich sogar, daß das schwarz glänzende Band der Strasse einen Schlenker um einen kleinen, von Bäumen umsäumten See macht.

Aber sogar die Quadrate, die ausschließlich aus frisch bearbeitetem Acker bestehen, zeigen aus meiner Vogelperspektive leichte Unterschiede. Die Erde ist unterschiedlich gefärbt, dies bildet unregelmäßige Flecken und Linien, die ein zweites, von der quadratischen Struktur der Felder sehr unterschiedliche Muster erkennen lassen.

"Es gibt offenbar etwas in der Natur, das sich der Ordnung widersetzt" denke ich befriedigt "denn Ordnung ist armselig und langweilig."

Im gleichen Augenblick erkenne ich, daß dieser Gedanke eine maßlose Untertreibung darstellt. Der Ordnung widersetzt sich in der Natur nämlich alles.

 

Gesehen heute

Die ausländische Putzfrau, die schüchtern den Raum betritt.

Den leutseligen deutschen Kollegen, der im guten Glauben versucht, sie zu ermuntern und dabei noch mehr Betroffenheit auslöst.

Die gemeinsame Verlegenheit, die beide für einen Augenblick einander sehr nahe bringt.

 

Kollektives Syndrom

Untergangsstimmung nach dem Zusammenbruch der Diktatur. Die meisten Menschen haben alle Hände voll zu tun, das nackte Überleben zu meistern. Viele sind bemüht, sich selbst reinzuwaschen, reich zu werden, Macht zu ergattern. Parteien und Institutionen machen sich gegenseitig für die Katastrophe verantwortlich, die öffentliche Meinung ist vom erbitterten Kampf Aufklärung gegen Verdrängung zerrissen.

In einem Punkt besteht jedoch Einigkeit. Fast alle sind sie bemüht, die wenigen kritischen Stimmen von damals, die vor der schleichenden Machtergreifung gewarnt hatten, herunterzuspielen. Die Begründung ist einfach. "Das konnte man vorab doch gar nicht wirklich wissen"

(Falls jemand von den Propheten wider erwarten von dem diktatorischen Repressionssystem verschont wurde und doch noch am Leben ist, wird er in gekonnter Manier gesellschaftlich kaltgestellt.)

 

Aus lauter Neid geschrieben

Der Alptraum des Briefträgers: er muß nun die Harry Potter Bücher nicht nur austragen, sondern auch lesen...

 

Führungslos

In Amerika ist ein Güterzug mit Gefahrengut jedoch ohne Zugführer 100 Meilen weit gefahren und konnte erst nach zwei Stunden gestoppt werden.

Große Aufregung weltweit.

Es ist seltsam. Daß unsere Zivilisation genauso führungslos durch die Geschichte rast, fällt überhaupt nicht auf...

Der Vergleich mit dem Zug hinkt jedoch etwas. Wenn man von ihren Nebenwirkungen absieht, ist Zivilisation bekanntlich völlig ungefährlich.

 

Wie ich das hasse!

Mittelmäßige Leistung schadet dem Erfolg in doppelter Hinsicht: nicht gut genug, um etwas vernünftiges auf die Beine zu stellen, nicht schlecht genug, damit wir wenigstens aus Fehlern lernen können.

(Machen wir uns jedoch nichts vor: die erfolgreichsten Erfolgsverhinderer sind alles andere als mittelmäßig.)

 

Glaube

Zwei sehr wichtige Dinge habe ich in der Kirche gelernt.

Ich habe bereits in dem Alter gelernt zu schweigen, in dem es am schwierigsten ist: als Kind.

Später, in einer Zeit in der ich mich für einen Atheisten hielt, habe ich gelernt, mich nicht zu beugen. Ich habe dem sozialen Druck standgehalten. Ich bin der familiären Harmonie wegen in die Kirche gegangen, und habe mich nicht bekreuzigt.

 

Stolperstein auf dem Wege zum Absoluten

"Ich schreibe nur für mich und für die Ewigkeit" verkündet der Dichter stolz.

Dann fügt er leise hinzu: "und auch für Dich, einsame Seele."

 

Fingerübung

Ich werde erst dann meinen Glauben an den Fortschritt zurückerlangen, wenn die Menschheit endlich beweist, daß sie unnützliches oder gar schädliches zurückerfinden kann. Gott hat seinen Dinosaurierentwurf auch zurückgezogen. (Bevor wir uns an die ABC Waffen herantrauen, sollten wir aber klein anfangen. Wie wäre es z.B. mit dem Handheld Computer?)

 

Grelle Finsternis

Der zeitgenössische deutsche Philosoph Sloterdijk redet im Zusammenhang mit der Internet Ära vom Massenindividualismus und von einer Kultur der Ungeduld. In seiner "Connected Isolation" hätte DER USER eine hohe "Selbstinszenierungskapazität", da am Bildschirm alles irgendwie veränderbar erscheint. Der Bruch mit dem Klassischen, mit allen seinen negativen Folgen für die Bildung, sei vorgezeichnet.

"Na und?", sagt DER USER "Zum Teufel mit Pluton und Aristokrates! Was können die schon, was ich nicht kann? Die haben nicht einmal eine Homepage!"

Ich mache es mir etwas einfacher. Ich sehe diese Einstellung als ein Ergebnis des Neo-Obskurantismus an. Bildung und Aufklärung werden durch ein Überangebot an Information (dies kommt einer Fehlinformation gleich) gezielt verhindert. DER USER wird so manipuliert, daß er an übernatürliches wie grenzenlose Freiheit, totale Entfaltung, Gleichberechtigung, Solidarität und Objektivität in der USER Gemeinschaft glaubt. Darüber hinaus glaubt DER USER, daß Information gleich Wissen und Wissen gleich Weisheit ist. Er konsumiert und produziert zugleich. Er baut sich eine eigene Powerpoint-Welt auf und schluckt dabei ahnungslos die Ungeheuerlichkeit des "Autoinhaltsassistenten" Alles easy!

Und wenn Sie wissen wollen, wer die Fäden dieser globalen Gemeinheit zieht, brauchen Sie nur danach zu fragen, wem das Ganze letztendlich nutzt. (Wie in jedem anderen Spiel mit Opfer und Täter auch.)

 

Schreibselige Kreatur

"Das ist gemein. Du schaffst in Deinen Kurzgeschichten Atmosphäre, machst dem Leser Appetit auf mehr, und hörst dann einfach auf" sagte Vera zu mir als ich ihr wieder einmal etwas zum Lesen vorgelegt hatte.

"Wie meinst Du das genau?" fragte ich in Erwartung von noch mehr Lob.

"Ich meine, Du solltest endlich etwas richtiges schreiben" sagte sie ernst.

"Meinst Du etwa ein Geschwätz wie in 'Doktor Faustus'?" gab ich erbost zurück.

Aber sie hat womöglich recht. Demnächst sollte ich wirklich eine Woche unbezahlten Urlaub nehmen und eine Trilogie schreiben.

 

Trost

Die Unbekümmertheit des Dilettanten kann nie die Professionalität aufwiegen, sagen die Profis. Das muß sie auch nicht, Gott sei gedankt, sagen wir Dilettanten.

 

Tarnung

Heutzutage kann man seine Genialität nicht mehr so offen zur Schau stellen wie früher, finden Sie nicht auch, lieber Leser?. Zum Glück gibt es viele Methoden, wie man sie verstecken kann: Müßiggang, Manierismus, Imitation, Oberflächlichkeit. Ich persönlich verwende eine kräftige Prise Naivität.

 

Zielsicherheit

Der gestürzte Politiker (Name beliebig austauschbar) erklärt der Presse, er wäre das Opfer einer infamen Kampagne. Und er wäre in seiner Würde verletzt worden.

Daß seine Gegner etwas so winziges überhaupt treffen konnten, halte ich (jedes Mal) für ein Husarenstück.

 

Dekadenz

Die wirkliche Triebfeder des Sittenverfalls ist nicht das unmoralische Verhalten, sondern die Frivolität. Sie wird nicht ernstgenommen, sie metastasiert und zersetzt alle Bereiche des sozialen Lebens.

 

So weit ist es mit der Frauenemanzipation

Ich habe mich bei uns in der Firma mit der ganzen Feministinnenbewegung angelegt. Dies fing am "Schwarzen Brett" an und setzte sich im privaten Leben mit Drohbriefen und anonymen Anrufen fort. "Irgendwann wirst Du von denen noch überfallen" sagte meine Freundin Vera besorgt. "Wie sieht es in Eurem Parkhaus mit beleuchteten Männerparkplätzen aus?" Ha, ha. Sie hat gut reden, mit ihrem Schwarzgurt in Karate.

 

Es ist Eile geboten!

Man kann bekanntlich seiner Vergangenheit nicht entfliehen. Es ist wurscht, ob Sie durchs Leben hasten oder schlendern, lieber Leser: die Vergangenheit haben Sie immer dicht hinter Ihnen. Die Zukunft aber, die HABEN Sie noch nicht, also beeilen Sie sich gefälligst.

 

Eingeigelt

In einer kleinen deutschen Stadt hat ein amerikanischer Panzer eine Reihe von Metallpfosten am Rande des Bürgersteigs auf einer Länge von fast fünfzig Meter plattgewalzt. Der Panzerführer hat es nicht einmal gemerkt, er wurde erst durch einen Hinweis per Funk der Situation gewahr. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Waren Sie schon mal in einem Panzerfahrzeug? Man hat eine Weitsicht wie durch ein Schlüsselloch.

Und Sie, lieber Leser? Sie betrachten gerade die Welt durch einen kleinen Monitor, der Ihnen nicht einmal räumliches Sehen gestattet. Ob das gut geht?

 

Eklat

Er stand einfach auf, stammelte etwas unverständliches und verließ die Besprechung. Betretenes Schweigen und vielsagende Blicke:

"Mein Gott! Was ist denn auf einmal mit ihm los?"

Ich dachte:

"Mein Gott! Was ist denn auf einmal mit uns los?"

 

Flucht

Als in Rußland die Bolschewisten an die Macht kamen, floh er nach Deutschland. Die Nazis gewannen die Wahlen, er floh nach Frankreich. Die Deutschen überfielen Frankreich, er floh nach Norwegen. Die Deutschen besetzten auch Norwegen, er floh nach Amerika. Als die McCarthy-Ära begann, floh er nach Kanada. Das globale Informationszeitalter brach aus, jetzt blieb er. Denn: Wohin soll man aus Kanada noch fliehen?

 

Zweifel

Der Gott in weiß sagte zu mir: "Geben Sie mir die linke Hand. Nein, nein, ich meine die auf meiner linken Seite".

Vielleicht doch ein Sterblicher?

 

Vanity Fair

Wir verhelfen manchem Zeitgenossen allein dadurch zum Ruhm, in dem wir bereit sind, eine menschliche Schwäche für eine Tugend zu halten, wenn sie nur im Übermaß vorhanden ist.

 

Endlich Klarheit!

Ein Aphorismus kann höchstens eine Halbwahrheit sein: Man kann nämlich mit gleichem Recht auch die gegenteilige Aussage treffen.

(Schwierig wird's erst, wenn der Leser diesen Geistesblitz für einen Aphorismus hält.)

 

Ultimative Toleranz

Aus ihm werde ich nicht ganz schlau, vielleicht ist er doch in Ordnung. Seine Unehrlichkeit, sie könnte auch nur gespielt sein.

 

Professionelle Einstellung

Genauso wie Ärzte die größten Hypochonder sind, sind Spaßvögel auf einmal absolut humorlos, wenn’s um ihre eigene Person geht.

 

Kein Ruhmesblatt

Als er von Reportern gefragt wurde, warum er überhaupt Berge besteigt, soll Sir Edmund Hillary erklärt haben: "Weil es sie gibt".

Ob dieser spitzfindigen Antwort ist die Öffentlichkeit regelrecht in Verzückung geraten, in manchen Kreisen hält die Ekstase sogar heute noch an. Denn das ist genau die Art von pompösen "Berühmten Worten", die sich gut verkaufen läßt.

(Der Sherpa Tensing wurde zu diesem Thema überhaupt nicht befragt, obwohl er vielleicht als erster auf der Spitze des Mount Everest war. Möglicherweise hätte er auf diese Frage wahrheitsgemäß aber wenig publikumswirksam geantwortet: "Um mein Brot zu verdienen".)

Genauso wie wir auf die Berge klettern, weil es sie halt gibt, werden wir bald auch menschliche Klone herstellen, weil es diese Möglichkeit halt gibt.

Und wenn Sie mich fragen, wir werden noch viel schlimmeres anstellen. Wenn der einzelne Mensch kein Fettnäpfchen auslassen kann, kann er doch nicht ernsthaft erwarten, daß die Menschheit irgendeine Katastrophe ausläßt.