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Vision “Sind wir jetzt mit dem Portfolio durch?“
fragte der Divisionsleiter leicht gereizt. (Eigentlich wurde diese Frage in
seinem gebrochenen Deutsch mit starkem schweizerischen Akzent gestellt, wobei
ich jedoch eine allzu getreue Wiedergabe für entbehrlich halte. Der Leser
wird gebeten, sich dies selbst vorzustellen. Als kleine Hilfeleistung
meinerseits vielleicht noch der Hinweis, daß sein Englisch um einiges
schlimmer ist, jedoch ulkigerweise mit starkem italienischen Akzent
vorgetragen wird. Und Gerüchten zufolge spricht er Spanisch mit ausgeprägtem
französischen Akzent. Seine Fähigkeiten in anderen Weltsprachen sind mir
nicht bekannt.) Ja, wir waren durch. Fertig. In den
vergangenen sechs Stunden hatte ich von ihm eine derartige Fülle von mehr
oder weniger versteckten Vorwürfen und abfälligen Bemerkungen über unsere
Leistung gehört, wie schon lange nicht mehr. Dies kulminierte mit der
rhetorischen Frage: „Soll ich mich selbst ins Labor begeben und euch zeigen,
daß es schneller und besser geht?“ Die Tatsache, daß er auf Deutsch nicht
sehr differenziert formulieren konnte, machte er durch ausdrucksvolle Mimik
und Gestik mehr als nur wett. Italiener, halt. Jürgen, der arme Forschungsleiter, stand
auf und blickte fragend in die Runde. „Ja, ich nehme an, wir sind fertig. Wir
haben alles gezeigt, was wir in der Pipeline haben. Ich meine, wir brauchen
uns gar nicht zu verstecken... drei neue Produkte in einem Jahr... und die
Technologieprojekte...“ Der Divisionsleiter stand selbst auf,
marschierte zum Podium und drückte im Vorbeigehen dem Forschungsleiter einen
silbernen USB-Stick in die Hand. Und während er das alles tat, verkündete er: „Wirklich? Es ist unbestritten, daß sich
die Entwicklung in unserer Division in einem erbärmlichen Zustand befindet.
Ich werde euch auch sagen, warum. Drei Gründe. Führungsstil, Überbewertung
der Technik und Mangel an Visionen.“ „Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt
gehen“ murmelte mein Kollege Fritz aus der Reihe hinter mir. Ich drehte mich um. „Das ist aber eher ein
Fall für den Psychiater, glaube ich.“ „Zum Führungsstil. Zu weich. Du stehst auf,
Jürgen, bleibst aber an deinem Platz zwischen deinen Leuten stehen. Du bist
einer von ihnen, ihr seid Kumpel. Wo bleibt deine Autorität? Guck mich an.
Ich stehe auf und stelle mich vor euch. Ich habe Autorität, weil ich sie mir
nehme. Und wenn einer meine Autorität nicht anerkennt, dem muß ich zeigen, wo
der Hammer hängt. Die Überbewertung der Technik habe ich vorhin bei eurer
Projektpräsentation schon erwähnt. Glaubt ihr im Ernst, der Kunde ist allein
an eurer verdammten Funktion interessiert? Der Kunde will ein Juwel kaufen,
das funkelt. Und was habt ihr anzubieten? Nackte Funktion. Kein Pep, nichts.
Das führt mich zum Thema Visionen. Ihr laßt euch allein vom Machbaren
verleiten. Kein
Dreamspace, kein Out-of-the-box-thinking. Mach mal die Datei
technology.ppt auf, Jürgen. Danke. Wißt ihr, was das ist?“ Auf der Leinwand war ein Kreis zu sehen,
der in schätzungsweise 20 Segmenten unterteilt war, die sich durch Farbe oder
Muster unterschieden. Jeder Radius war längs beschriftet, wobei man die
Schrift aus meiner Entfernung gar nicht lesen konnte. Drum herum jede Menge
Text, den man genausowenig lesen konnte. Trotzdem: Eindeutig zu erkennen als
die „Spiderweb“ genannte Darstellungsform für Produkteigenschaften oder
Kundenanforderungen. Eingescannt aus irgendeinem Managementbuch. Ein alter
Hut. „Ein alter Hut?“ schlug ich vor. Das
steckte er weg wie nichts. Seine feurigen schwarzen Augen funkelten mich
belustigt an. „Alt, ja, aber kein Hut. Nichtsdestoweniger
aktuell. Jetzt zu meiner Vision. Nächste Folie, bitte!“ Hier war der Kreis größer, die Anzahl der
Segmente geringer, die Schrift gut lesbar. Da standen u.a. drauf
Korrosionsfestigkeit, Gewicht, Herstellkosten, Umweltfreundlichkeit, Anzahl
Bedienungsschritte u.s.w. Und vor allem war der Folientitel gut lesbar, er
sprang ja geradezu ins Auge. Seine Vision hieß: „DIE VOLLDIGITALE
SCHRAUBE“ |
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