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Psychologie
Heute 7/2004, Seite 30
Rubrik: Persönlichkeit
Autor: Daniel Leising
Die Allergrößten
Was Narzissten antreibt, wie sie ihr Leben einrichten, und warum es so schwer
ist, mit ihnen zurechtzukommen
Wer dieser Tage den Fernseher einschaltet, kommt aus dem Staunen nicht
heraus: Innerhalb weniger Wochen kann man da vom Nobody zum „Superstar“
aufsteigen, eine Menge Geld verdienen. Allerdings verschwindet man dann –
ebenfalls innerhalb weniger Wochen – wieder in der Versenkung. In der
Hoffnung auf den schnellen Erfolg sind Tausende bereit, sich auf ein hartes
und oft demütigendes Ausleseverfahren einzulassen (Deutschland sucht den
Superstar). In einem anderen „Format“ konkurrieren gut aussehende junge Damen
darum, ebenso gut aussehende junge Herren für sich zu gewinnen (oder
umgekehrt), und sind dabei wenig zimperlich im Ausstechen ihrer
Nebenbuhlerinnen (MTV Dismissed). Im berühmten Container wurden die
Bedingungen verschärft: Regelmäßige Wettkämpfe entscheiden darüber, wer die
nächste Zeit mit Champagner und Whirlpool im Luxus schwelgen darf und wer vom
Strohlager aus neidisch zuschauen muss (Big Brother – The Battle).
Anspruchsvollere Menschen messen sich derweil in Quizshows beim Abgleich
ihres Allgemeinwissens.
Der ausgeprägte Wunsch nach Ruhm und Erfolg, das heftige Konkurrieren auf dem
Weg dorthin und auch der unsanfte Umgang mit den Verlierern weisen
erstaunliche Parallelen auf zu einem Phänomen, das in der klinischen
Psychologie mit dem Begriff des Narzissmus belegt wird. Als narzisstisch gelten
Menschen, die besonderen Wert darauf legen, vor anderen als überlegen,
großartig und unerreichbar dazustehen. Sie reden fast ausschließlich von
sich, ihren Ideen und Erfolgen. Dagegen bringen sie dem, was andere zu
berichten haben, wenig Interesse oder sogar offene Geringschätzung entgegen.
Weil sie sich offensichtlich für etwas Besseres halten – und das andere auch
gerne spüren lassen –, werden sie oft als „arrogant“, „überheblich“ oder
„eingebildet“ angesehen.
Der Begriff des Narzissmus wurde von Sigmund Freud in die Psychopathologie
eingeführt. Er bezieht sich auf das mythologische Vorbild des schönen
Jünglings Narziss, dessen Geschichte in den Metamorphosen des römischen
Dichters Ovid nachzulesen ist: Narziss wird von Frauen wie von Männern umworben,
doch er ist hochmütig und verschmäht sie alle. Als er an einen Teich kommt,
erblickt er im Wasser sein Spiegelbild und entbrennt sofort in heftiger
Liebe, da er zunächst nicht bemerkt, dass es sich um sein eigenes Abbild
handelt. Nahrung und Schlaf werden ihm gleichgültig, er wagt nicht, sich
abzuwenden, da er damit auch sein angebetetes Gegenüber verlieren würde. Auch
als er schließlich mit Schrecken die Wahrheit erkennt, kann er den Bann nicht
brechen – er bleibt gefangen in seiner Selbstbewunderung und geht elend
zugrunde.
In der langen psychoanalytischen Theoriegeschichte hat im Laufe der letzten
Jahrzehnte eine ständige Erweiterung und Verwässerung des Narzissmusbegriffes
stattgefunden, sodass seine Bedeutung inzwischen recht unklar geworden ist.
So wird zum Beispiel von gesunden und normalen „narzisstischen Bedürfnissen“
gesprochen, die jeder Mensch habe. Oder die vermeintlich egozentrische
Lebenssituation des Säuglings wird als „primärer Narzissmus“ bezeichnet.
Nimmt man jedoch den Mythos mitsamt seinem tragischen Ausgang ernst, so
scheint es am angemessensten, das Wort ausschließlich im Zusammenhang mit
einer Störung des zwischenmenschlichen Miteinanders zu verwenden.
Die American Psychiatric Association (APA) hat in ihrem Diagnostischen Manual
DSM-IV festgelegt, welche Verhaltensmerkmale eines Menschen die Diagnose
einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung begründen:
(1) Ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit
(2) Eine starke Beschäftigung mit Fantasien von Erfolg, Macht, Schönheit
(3) Der Glaube, „besonders“ zu sein und nur mit „ebenbürtigen“ Personen
verkehren zu können
(4) Ein Verlangen nach übermäßiger Bewunderung
(5) Eine Anspruchshaltung, etwa auf bevorzugte Behandlung
(6) Eine ausbeuterische, manipulative Beziehungsgestaltung
(7) Mangelndes Einfühlungsvermögen
(8) Häufige Neidgefühle oder die Überzeugung, andere seien neidisch
(9) Ein arrogantes, überhebliches Auftreten.
Durch diese Kategorien wird ein Typ Mensch beschrieben, der in der Realität
nur selten in voller Ausprägung anzutreffen ist. Für die Diagnose genügt es
daher, wenn mehr als die Hälfte der Merkmale, also mindestens fünf vorhanden
sind. Dabei ist wichtig, dass es sich um ein zeitlich stabiles
Verhaltensmuster handeln muss: Wer einmal im Alkoholrausch oder nach einer bestandenen
Prüfung „narzisstisch“ auftritt, hat deshalb noch keine
Persönlichkeitsstörung. Auch weisen viele Menschen im Alter zwischen etwa 12
und 18 Jahren eine ganze Reihe der genannten Merkmale auf, die Diagnose
lautet dann jedoch „Pubertät“ – Persönlichkeitsstörungen werden erst ab dem
frühen Erwachsenenalter diagnostiziert. Nur etwa ein Prozent der erwachsenen
Bevölkerung erfüllt die genannten Bedingungen, dabei Männer etwa dreimal so
häufig wie Frauen. Das Spezifische der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
ist, dass die Gedanken, die Gefühle und das Verhalten der Betroffenen in
extremer Weise um den Wert der eigenen Person und den Vergleich mit anderen
kreisen.
Was die Ursachen dieser Störung betrifft, so konkurrieren im Wesentlichen
zwei Theorien miteinander: Die eine besagt, die betroffenen Personen seien in
der Kindheit verhätschelt und von den Eltern vor den Einschränkungen und
Enttäuschungen des täglichen Lebens bewahrt worden. Daher richteten sie auch
als Erwachsene noch entsprechende Erwartungen an ihre Umwelt: Sie haben
schlicht keine Erfahrung mit solchen Situationen, in denen es einmal nicht
nach ihrer Nase geht. Wie selbstverständlich fordern sie daher – aus
Gewohnheit – Sonderrechte für sich.
Die andere Theorie der Narzissmusentstehung betont dagegen die Abwehrfunktion
des arroganten Verhaltens: Kinder haben ein starkes, natürliches Bedürfnis,
von den Eltern wahrgenommen und anerkannt zu werden. Ob die Eltern diesem
Bedürfnis in hinreichender Weise entsprechen, ist von zentraler Bedeutung für
eine gesunde Selbstwertentwicklung. Wer jedoch in dieser Hinsicht geschädigt
wurde, etwa durch andauernde Kränkung, Zurücksetzung und Missachtung, der
kann sich unter bestimmten Umständen die Strategie aneignen, sich mit Gewalt
Achtung zu verschaffen. Der Betroffene dreht gewissermaßen den Spieß um:
Anstatt sich minderwertig, schwach und unterlegen zu fühlen, mobilisiert er
enorme Kräfte, um zu beweisen, dass er Anerkennung verdient, mithalten kann,
vielleicht sogar anderen überlegen ist. Nach dieser Auffassung handelt es
sich um eine Überlebensstrategie im Umgang mit einem sehr fragilen Gefühl für
den eigenen Wert.
Beide Erklärungsansätze sind reine Hypothesen und einer wissenschaftlichen
Überprüfung nach den strengen Kriterien der empirischen Psychologie nur
schwer zugänglich. Mehrere Beobachtungen sprechen jedoch dafür, dass ohne ein
erhebliches Ausmaß von Schädigung keine ausgewachsene narzisstische
Persönlichkeitsstörung entstehen kann.
Eine „Prinzessin auf der Erbse“, die von Kindesbeinen an gewohnt war, mit
Samthandschuhen angefasst zu werden, wird in dem Moment, in dem diese
Erwartung abrupt enttäuscht wird, vielleicht verwirrt, empört oder traurig
sein. Bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit führen solche
Situationen jedoch häufig zu krisenhaften Zuständen – mit Depressionen,
starken Ängsten oder sogar Selbstmordgedanken. In den Therapien
narzisstischer Menschen kommen häufig tiefgreifende Erfahrungen von
Vernachlässigung und Demütigung ans Licht – wenn die Zeit zum Aufbau einer
vertrauensvollen therapeutischen Beziehung lang genug war.
Das Wissen um solche verheerenden Entwicklungsbedingungen lässt das zuvor
vielleicht nur absonderlich oder nervig wirkende Verhalten der Patienten oft
verständlicher und verzeihlicher erscheinen. Und noch etwas spricht für die
Abwehrhypothese: das offenkundige Getriebensein vieler Betroffener. Jemand,
der sich seiner Qualitäten sicher ist, kann seinen Mitmenschen freundlich,
aufgeschlossen, nachsichtig oder hilfreich begegnen. Dagegen erleben
narzisstische Menschen ihre Gegenüber sehr schnell als potenzielle
Konkurrenten, als gefährliche Erniedriger, kurz: als Bedrohung. Ihre größte
Angst ist offenbar die, vor sich selbst oder anderen mit den eigenen
(vermeintlichen) Unzulänglichkeiten und Schwächen bloßgestellt zu werden.
Diese extreme Labilität des Selbstwertgefühls erzeugt bei Menschen mit
narzisstischer Persönlichkeitsstörung eine ausgeprägte Kränkbarkeit – mit
heftigen Racheimpulsen für erlittene Demütigungen und der Unfähigkeit zu
verzeihen.
Nicht alle Menschen, deren Selbstwertentwicklung behindert wurde, gehen mit
ihrer Verletztheit in dieser Weise um. Mancher, der zu wenig Anerkennung und
Zuwendung erfahren hat, wird stattdessen depressiv, unsicher oder ängstlich.
Das Besondere der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist die betont aktive
Form der Bewältigung: Der Betroffene kämpft mit aller Macht gegen die Gefahr
an, sich wertlos zu fühlen, anstatt sich ihr resignierend zu ergeben. Dabei
kommen mehrere Strategien zum Einsatz, die alle das Ziel haben, sich nie
wieder so klein zu fühlen:
Wer nie mehr der Kleinste sein will, der versucht, der Allergrößte zu werden.
Schon Durchschnittlichkeit wird häufig als bedrohlich erlebt. Narzisstische
Menschen streben deshalb ständig danach, sich abzuheben, hervorzustechen. Der
Volksmund hat hierfür den Begriff der „Profilneurose“ geprägt.
Ein gutes Mittel gegen das Kleinfühlen sind Höchstleistungen: Viele
narzisstische Menschen rackern wie wild an besonders aufwändigen, schwierigen
oder kraftraubenden Aufgaben. Sie bleiben immer am längsten im Büro, arbeiten
auch am Wochenende und am Abend, füllen ein Ehrenamt nach dem anderen aus,
trainieren bis zum Umfallen. Und der Aufwand zahlt sich oft aus: Die
vermehrte Anstrengung führt tatsächlich zu besonderen Erfolgen.
Eine andere Methode, das Kleinsein zu überwinden, ist die Entwertung der
anderen. Charakteristischerweise lassen sich narzisstische Menschen mit
Vorliebe darüber aus, was ihre Mitmenschen schlecht oder falsch machen, in
welchen engen Grenzen diese doch leben oder denken und was sie alles nicht
können oder verstehen.
Ergänzt wird das Runtermachen der anderen durch Selbstüberhöhung: „Seht her,
was ich alles kann, weiß und geleistet habe.“ Dabei werden auch alltägliche,
von den meisten Menschen ohne viel Aufhebens erledigte Aufgaben oder
durchgestandene Belastungen zu besonders bemerkenswerten Ereignissen.
Narzissten sind Meister darin, Niederlagen in Erfolge umzudeuten. So wird
etwa die mangelnde Anerkennung durch andere als Zeichen für deren geistige
Unterlegenheit ausgegeben: „Sie sind einfach zu dumm, um die Größe meiner
Idee zu erkennen“. oder auch: „Die sind ja nur neidisch.“
Narzissten unterbrechen und korrigieren andere mit Vorliebe, wissen es
meistens besser und haben gern das letzte Wort.
Je erfolgreicher eine Person solche Strategien zum Einsatz bringt, desto
besser gelingt es ihr, dem zu entgehen, was der Hamburger
Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun das „Damoklesschwert
der Niederlage“ nennt: dem Gefühl, unperfekt, unwichtig, entbehrlich zu sein.
Narzissten stellen ihre Umwelt vor eine kaum lösbare Aufgabe, weil fast
alles, was sie tun und sagen, die Aufforderung enthält: „Gib zu, dass ich
etwas Besonderes bin, größer als die allermeisten – dich eingeschlossen!“ Dabei
wird jedoch eine grundlegende Bedingung des zwischenmenschlichen Umgangs,
nämlich das Gebot „Was du nicht willst, das man dir tu …“, eklatant verletzt,
denn der Betroffene behandelt seine Umgebung genau so, wie er selbst auf gar
keinen Fall behandelt werden möchte. Auf dieses narzisstische
„Beziehungsangebot“ kann man unterschiedlich reagieren:
Die spontane Reaktion vieler Menschen ist: Bewunderung. Der Narzisst hat
gelernt, seine Außenwirkung zu maximieren. Er ist ein Meister der
Selbstdarstellung. Entsprechend sind viele bei seinem ersten Auftritt wie
gebannt von so viel Belesenheit, Intelligenz und Redegewandtheit. Wenn jedoch
offensichtlich wird, dass dieses Stück das einzige ist, das gegeben wird,
stellt sich schnell eine gewisse Ernüchterung ein. Nur die wenigsten sind
bereit, auf Dauer das Publikum für die Selbstinszenierung eines anderen
abzugeben. Entsprechend wird die Bewunderung nach und nach von einer
zunehmenden ironischen Distanz abgelöst: „Der schon wieder“, oder: „Ja, es
reicht jetzt – wir wissen, dass du der Tollste bist.“ Genau davor aber hat
der narzisstische Mensch die meiste Angst: belächelt, nicht für voll genommen
zu werden. Er wird seine Anstrengungen verdoppeln, sich noch mehr in den
Vordergrund drängen, bis wirklich niemand mehr bereit ist, es länger mit ihm
auszuhalten.
Eine andere häufige Schwierigkeit ist die Verstrickung von zwei ähnlich
narzisstisch Strukturierten: Treffen zwei solche Menschen aufeinander, kann
es ganz schnell ungemütlich werden, denn der eine fühlt sich von der
Selbstbeweihräucherung des anderen in den Schatten gestellt und umgekehrt.
Innerhalb von Sekunden kann sich ein Gespräch zum offenen Schlagabtausch
entwickeln, in dem es nur noch vordergründig um ein Sachthema geht, in
Wirklichkeit aber um die Frage „Wer von uns beiden ist der Größere?“.
Es gibt aber auch Menschen, die sich vom Beziehungsangebot des Narzissten
dauerhaft angesprochen fühlen. Sie haben oft einen ähnlichen
Erfahrungshintergrund wie er, und ihr Selbstwertgefühl ist ebenso fragil. Sie
kämpfen jedoch nicht selbst für dessen (Wieder)Herstellung, sondern schließen
sich lieber einem Guru an, der all das zu verkörpern scheint, was sie bei
sich selbst vermissen. Sekten rekrutieren ihre Anhänger meist nach diesem
Muster, es gibt aber auch Zweierbeziehungen oder Arbeitsgruppen mit einer
solchen Struktur.
Nur eine einzige Konstellation macht es dem Narzissten möglich, aus der
direkten Konkurrenz mit den ihn umgebenden Menschen herauszutreten: Wenn er
sich als Teil einer besonders privilegierten Gruppe wähnen kann. Die
Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist dann selbst etwas Stabilisierendes. Die
anderen Allergrößten werden geduldet, weil ihre Anwesenheit der beste Ausweis
der eigenen Größe ist. Die unterlegene Rolle kommt dann dem Pöbel zu, der nicht
dazugehört.
Die Frage, inwiefern das beschriebene Verhaltensmuster eine psychische
Störung darstellt, ist – wie bei fast allen Diagnosen – eine Frage der
Dosierung. Die meisten der genannten Charakteristika lassen sich auch positiv
formulieren und werden dann von vielen als durchaus erstrebenswert angesehen:
sich durchsetzen können, mal nicht an die Interessen der anderen denken, im
Mittelpunkt stehen und sich darstellen können, hohe Leistungsmotivation,
Zielgerichtetheit und ein Bewusstsein für die eigenen Stärken. Wer in diesen
Bereichen über zu wenig Kompetenzen verfügt, kann von Narzissten eine Menge
lernen. Viele Berufe könnten ohne eine gehörige Portion dieser Eigenschaften
überhaupt nicht ausgeführt werden: Chefärzte, Behördenleiter, Manager bewältigen
die Anforderungen ihrer Position überhaupt nur, wenn sie zu all dem in der
Lage sind. Die Grenze zur Störung ist erst dann überschritten, wenn das
Verhalten unflexibel und unangemessen ist und beim Betroffenen selbst oder
bei den Menschen in seiner Umgebung zu Leiden oder Beeinträchtigung führt:
Manche Chefs können keinen einzigen Fehler eingestehen und ertragen in ihrer
Umgebung nur Jasager, was letztlich zu Problemen führt, weil sich niemand
mehr traut, offenkundige Fehlentscheidungen anzusprechen.
Wie man sich leicht vorstellen kann, suchen narzisstische Menschen nur selten
von sich aus eine Therapie. Solange das Verhaltensmuster seine Funktion
erfüllt, besteht für sie kein Anlass, sich in Behandlung zu begeben. Ganz im
Gegenteil: Einem Menschen mit funktionierender narzisstischer Abwehr geht es
subjektiv meist recht gut, sieht man einmal von der ständigen Anspannung ab,
die der selbst gemachte Leistungsdruck erzeugt. Narzissten sehen ihr
Verhalten und ihre Befindlichkeit im Gegensatz etwa zu Bulimikern oder
Depressiven selbst nicht als Problem. Es leiden in der Regel eher die
Menschen im Umfeld des Narzissten, diejenigen, auf deren Kosten er sich
stabilisiert.
Begibt sich ein narzisstischer Mensch trotzdem in eine Therapie, kann es
passieren, dass er die Behandlung als einen seiner vielen großartigen Erfolge
abhakt, ohne jemals zu verstehen, was denn eigentlich an seinem
Beziehungsverhalten problematisch sein soll. Narzissten gelten als schwer
behandelbar, empirisch überprüft ist diese Aussage aber bisher nicht.
Eine echte Behandlungsmotivation entsteht – oft sehr plötzlich –, wenn die
narzisstische Bewältigungsstrategie zusammenbricht. Auslöser sind häufig
Erfahrungen von Kränkung oder Zurücksetzung, zum Beispiel im Zusammenhang mit
der Karriere, aber auch schwere körperliche Erkrankungen mit dem sie
begleitenden Ohnmachtserleben. Wenn ein Betroffener mit ausreichender
Intensität daran erinnert wird, dass auch er schwach, bedürftig und hilflos
sein kann, entsteht eine „narzisstische Krise“. Dann wird aus einem
strahlenden Überflieger binnen kurzer Zeit ein Häufchen Elend, und unbändiger
Stolz schlägt in ein Gefühl totaler Wertlosigkeit um. Wenn die Illusion
allseitiger Überlegenheit und Kontrolle verloren geht, tauchen sogar
Selbstmordgedanken auf. Beispiele dafür, dass sich sehr erfolgsorientierte
Menschen das Leben nahmen, weil ein drohendes Scheitern ihnen unerträglich
schien, kennen wir beispielsweise aus der deutschen Politik (Uwe Barschel,
Jürgen Möllemann).
Unser Verhältnis zum Narzissmus scheint sich in den letzten Jahren verändert
zu haben. „Ganz groß herauskommen“ zu wollen gilt heute nicht mehr als
vermessen, es ist fast eine Tugend. Man bekennt sich freimütig zum
„kompetitiven Arbeitsstil“, Begriffe wie „Wettbewerb“ und „Elitenbildung“ haben
Konjunktur. Die Fähigkeit, sich selbst zu vermarkten und ins rechte Licht zu
rücken, ist zur Schlüsselkompetenz geworden, ohne die es nicht mehr geht.
Das betrifft in hohem Maße auch das Körperliche: Schönheitsoperationen sind
üblich, und schon in Schulen wird gewetteifert, wer den schlankesten Körper
hat. Immer mehr junge Menschen sind bereit, Partnerschaft und
Familiengründung der Karriere zuliebe hintanzustellen. Gleichzeitig hat
jedoch die Zahl der Patienten mit psychischen Leiden, vor allem Depressionen,
in den letzten Jahren stark zugenommen. Im täglichen Gerangel um Besonderheit
bleiben viele auf der Strecke. Für die menschlich-allzumenschlichen
Eigenschaften wie Schwäche, Durchschnittlichkeit und Verletzlichkeit bleibt
kein Raum mehr. Ist es denn wirklich so schlimm, „gewöhnlich“ zu sein?
Weiterführende Literatur
P. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen. Beltz, Weinheim 2001 (5. Auflage)
H.-J. Roth: Narzissmus. Selbstwerdung zwischen Destruktion und Produktivität.
Juventa, Weinheim 1990
H. Saß, H.-U. Wittchen, M. Zaudig, I. Houben: Diagnostisches und
Statistisches Manual Psychischer Störungen. Textrevision. DSM-IV-TR. Hogrefe,
Göttingen 2003
F. Schulz von Thun: Miteinander reden 2. Stile, Werte und
Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek 1989
© Psychologie Heute, Beltz Verlag, D-69469 Weinheim. Dieser Beitrag ist
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