Fussball

An der Ecke zur Schulstrasse bog ich heute nach rechts. Das war nicht unsere übliche Route, normalerweise ging ich mit Bonny genau in die andere Richtung spazieren, zum Waldrand. Unschlüssig hing sie etwas zurück, die Leine spannte sich ein wenig. Dann nahm sie die veränderte Lage einfach hin und kam auf gleiche Höhe zurück.
Ich bog nun in eine kleine Gasse ein. An der Rückseite von prächtigen Häusern mit Riesengrundstücken kannte ich einen von Bäumen umsäumten Füssgängerweg, wo früher die Eisenbahntrasse entlang lief. Hier war es schattig und feucht. Der Duft der Akazien war überwältigend.
Wir näherten uns den Sportplätzen. Heute war hier was los. Wahrscheinlich wurde meine Entscheidung, diese Richtung einzuschlagen, im Unterbewusstsein durch den Spiellärm ausgelöst.
Auf dem Fussballspielplatz wirbelten zwei Schülermannschaften wortwörtlich viel Staub auf. Das hier war jedoch etwas mehr als nur jene einfachste Art von Sportunterricht für Buben, die so häufig an Schulen praktiziert wird: die Mannschaften hatten richtige Trikots an, rot auf der einen und weiss auf der anderen Seite. Es gab sogar Schiedsrichter, die trugen schwarze Hosen und schwarzgelb gestreifte Trikots, es musste also irgendeine Schülermeisterschaft sein. Auf meiner Seite war kein Platz für Publikum, da der freie Streifen am Zaun entlang nur etwa zwei Meter breit war. Auf der anderen Seite befand sich hinter einer symbolischen Absperrung ein bunter Haufen von vielleicht hundert Zuschauern. So weit ich das von hier aus erkennen konnte, waren die meisten von ihnen auch Schüler.
Ich bückte mich ein wenig und schlüpfte durch ein grosses Loch im Maschendrahtzaun ‘rein. Bonny schwänzelte erfreut und folgte mir, wir gingen dann zusammen zum Rand der Spielfläche.
Das Spiel lief ziemlich chaotisch hin und her. Es bestand hauptsächlich aus einem grossen Gewühle im Mittelfeld, begleitet von viel Geschrei. Der Spielerhaufen bewegte sich abwechselnd zehn Meter nach links oder rechts, je nachdem, wer den Ball hatte. Hin und wieder gab es Befreiungsschläge oder Querschläger, die einen Überraschungsmoment mit sich brachten und das Geschehen unversehens in die Nähe eines Tores verlagerten. Das Geschrei wurde dann noch grösser. So wie jetzt. Der langaufgeschossene rechte Verteidiger der weissen Manschaft, links von mir, machte einen Befreiungsschlag, wobei er den Ball nicht ganz richtig traf. Der Ball bekam viel Drall und flog weit nach vorne in einem kuriosen Bogen, der beide Mannschaften voll überraschte. Auf einmal war der kleine Rechtsaussen der Weissen in einer aussichtsreichen Position am 16-Meter Raum ganz allein, und der Ball flog ihm zu! Er trippelte kurz und nahm Anlauf zum Schuss. Der Ball setzte auf und sprang tückisch zur Seite. Der Kleine schoss ein Riesenloch in die Luft und setzte sich dann ob des überschüssigen Schwungs auf den Hintern. Er blieb liegen, der Ball ging ins Toraus. Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend.
Der lange Verteidiger, der die Vorlage gegeben hatte, lief nun zum Unglücksraben und trat ihm mit voller Wucht in den Bauch.
Der Linienrichter auf meiner Seite schaute weg.
“Hey, das war doch eine Tätlichkeit. Sind Sie blind?” sagte ich zu ihm unter Darbietung meiner ganzen Diplomatie. Er warf mir einen kurzen Blick und tat so, als hätte er nichts gehört.
“So pfeifen Sie doch!” schrie ich ärgerlich.
Mit einem Schäferhund an meiner Seite machte ich wohl einen ungemütlichen Eindruck, weil er diesmal doch antwortete.
“Warum? Ist was passiert?” fragte er unschuldig zurück.
“Sehen Sie da” ich zeigte auf den Kleinen, der immer noch am Boden lag und sich krümmte, “der Lange hat ihm voll in den Bauch getreten.”
“Die gehören aber zur gleichen Mannschaft” sagte er und zuckte mit den Schultern.
“Das ist doch egal, Tätlichkeit bleibt Tätlichkeit, auch wenn sie gegen Zuschauer oder Schiedsrichter gerichtet ist.”
“Ach, das sind doch Achtklässler. Die haben keine richtige Kraft, auch wenn sie voll zuschlagen. Kann also nicht viel passieren. Ich weiss, wovon ich rede, ich bin Sportlehrer” sagte er uninteressiert.
Der Schiedsrichter hatte das Spiel noch nicht freigegeben. Gestützt von zwei Mitspielern, ging der Kleine jetzt langsam vom Spielfeld.
“Der Lange ist wohl paar Mal sitzen geblieben, was? Der ist über einsachtzig. Na, dann hoffe ich, dass er bei Gelegenheit auch Ihnen einen Tritt in die Eier verpasst!” sagte ich boshaft und verliess das Spielfeld. Bonny spürte meine Verärgerung, drehte sich einige Male nach dem Linienrichter um und knurrte ihn an.
Zu Hause erzählte ich Vera die Geschichte.
“Das war die souveräne Gelassenheit eines Pädagogen” war meine Schlussfolgerung. “So was lernen die heutzutage auf der Hochschule.”