Ostern 1986

Hatte gerade den monströsen Schlagbaum an der österreichisch-ungarischen Grenze passiert. Sockel, Gelenk und Stange sind aus massivem Stahl: nirgendwo ausser vielleicht in Berlin passt die Bezeichnung Eiserner Vorhang so gut wie hier.
Auf dem Parkplatz vor dem Gebäude, wo das Visum erteilt wird, grosses Gedränge. Im Gebäude selbst wohl wie immer lange Warteschlangen und noch mehr Gedränge.
Ich parkte unter einer Laterne neben einem grossen Citroën mit geöffneter Motorhaube. Der Wagen mit bundesdeutschem Kennzeichen ist voll bis oben hin mit einer Mischung aus Einkaufstüten, Kartons, Decken, Koffern und sonstigem Gepäck. Durch das hintere Seitenfenster kann man etliche Waffeltüten und ein riesiges Netz mit Apfelsinnen bewundern. Ich wusste, dass tiefer im Inneren der Ladung eine Unmenge an Zucker, Mehl, Öl und Konserven verstaut war: in Rumänien wird gehungert.
Eine zierliche Frau mit dunklem Haar, die gerade eben mit ihrem ganzen Oberkörper im Motorraum gesteckt hatte, erhebt sich und schaut mir direkt in die Augen. Trotz des spärlichen Lichtes konnte ich erkennen, das ihre blossen Arme bis zum Ellbogen mit schwarzem Fett beschmiert sind. Zwei Männerbeine sind gut sichtbar auf der weissen Parkplatzmarkierung, Schuhgrösse mindestens 48. Die Frau betrachtet jetzt ihre Hände, dann schaut sie mir wieder direkt in die Augen. “Ich habe meinen Ring verloren” sagt sie ohne allzugrosses Bedauern. “Ist wohl ‘runtergeglitten. Kein Wunder, bei dem Geschmiere. Kommst Du allein zurecht, Schatz?” fragt sie den Mann unter dem Auto. Ein Grunzen ist seine Antwort. Dann folgen leichte Bewegungen der Beine, die seine stumme Auseinandersetzung mit der Technik signalisieren. “Stellen Sie sich vor”, sagt sie lächelnd zu mir “wir hätten fast die Lichtmaschine verloren. Wir mussten unbedingt heute nachmittags losfahren, weil wir mit Freunden verabredet sind. Da war mein Mann mit der Reparatur nicht ganz fertig. Jetzt hing sie bloss noch an einer Schraube!” Das Leuchten in ihren Augen und die feinen Lachfalten geben ihr einen verschmitzten Ausdruck.
Ich bedauerte sie für die Sache mit dem Ring, erklärte ihr, wohin ich fahre und warum und unterhielt mich dann fünf Minuten auch mit ihrem Mann, der inzwischen in voller Länge neben mir stand. Er betrachtete zwischendurch selbst seine beschmierten Hände und erzählte mir, dass er die Lichtmaschine aus Zeitmangel nur mit zwei Schrauben hat befestigen können. Und die waren wohl auch nicht richtig fest angezogen, ansonsten hätte das Ganze gar nicht passieren können. Er schien etwas müde zu sein, war aber voll gefasst. Sein Blick hatte einen leicht träumerischen Ausdruck.
Die ganze Zeit dachte ich, was ICH in einer ähnlichen Situation wohl gemacht hätte.
Dann verabschiedeten wir uns. Sie gaben sich die beschmierte Hand und gingen zu den Toiletten, um sich zu reinigen.
Ich begab mich in das Gedränge, um mein Visum zu besorgen.