Ein Fall von Selbstjustiz

Es klingelte.
Normalerweise verlasse ich mich in solchen Fällen immer auf die Kinder, diesmal war ich jedoch in der Nähe und so machte ich auf. Ein schmächtiger Junge mit frechem Blick stand vor der Tür. Sein Fahrrad war neben meinem Auto geparkt. Ein weiterer Junge mit einem richtigen Fettwanst hielt sich mit seinem Fahrrad ausserhalb des Grundstücks, lugte aber neugierig über den Zaun. Beide waren sie gleich alt, etwa vierzehn.
“Ist Sven da?”
“Kann sein, muss ich nachsehen. Wer seid Ihr?”
“Ich bin der Marco. Und der da ist Eugen.”
“Marco und wie weiter?”
“Lutz.”
Der Name sagte mir gar nichts.
“OK, ich hole ihn.”
Sven sass in seinem Zimmer vor dem Computer. Ich sagte ihm, dass er Besuch hat und von wem. Er blickte mich schnell an. Seine blauen Augen verdunkelten sich.
“Die will ich nicht sehen. Die sollen mich in Ruhe lassen.”
“Sind das die mit den Regenwürmern?”
Vor kurzem hatten Spielkumpane von ihm Regenwürmer gegen die frisch geputzten Scheiben unserer Küchenfenster geschmissen. Und Sven hatte deswegen Ärger gekriegt.
“Marco, ja. Und er hat auch mein Fahrrad demoliert.”
Aha, die Sache mit dem Fahrrad. Deswegen hatte Sven auch Ärger gekriegt. Das Fahrrad war nämlich wirklich demoliert, das Hinterrad aus purer Bosheit kaputt getrampelt, Felge und Speichen total verbogen. Und Vera hatte vergeblich versucht, von den Eltern die Reparaturkosten einzutreiben, sie stritten einfach alles ab. Es wäre so wie so nichts zu holen gewesen, wie wir später erfuhren: Die Mutter war Alkoholikerin, der Vater stand auf härtere Drogen, beide lebten sie von der Sozialhilfe. Nach diesem Vorfall hatten wir Sven den Umgang mit Marco verboten.
“Dann geh hin und sage ihnen, dass Du mit ihnen nichts mehr zu tun haben willst. Und dass sie hier nichts verloren haben. Es ist wichtig, dass Du das selber tust.”
Er nickte und ging widerstrebend zur Tür. Ich blieb in seinem Zimmer und wartete auf ihn. Er kam nach einigen Minuten zurück, setzte sich in den Schreibtischsessel und schaute mich ernst an. Dabei drückte er seine zusammengefalteten Hände zwischen den Oberschenkeln aneinander.
“Die haben was angestellt und wollen es mir anhängen” sagte er ruhig. “Das geht aber nicht, denn ich war gar nicht da. Sie wollen mich zwingen, das ich das trotzdem auf mich nehme. Mach ich aber nicht. Sie haben beide mächtig viel Angst.”
In diesem Augenblick sprach er mit der Reife eines Erwachsenen. Von seiner üblichen Zerstreutheit keine Spur. Er empfand keine Angst. Es war eine der wenigen Situationen, wo er nicht von vorne herein als Verlierer fest stand.
Die Unverfrorenheit dieser Forderung war atemberaubend, sie folgte jedoch einer eisernen Logik. Der ewige Sündenbock wollte auf einmal nicht mehr mitspielen, sie versuchten schlicht und einfach ihn dazu zu zwingen.
Es klingelte erneut. Ich lief zur Tür und machte auf. Marco stand immer noch oder schon wieder vor der Tür, der Fettwanst hatte sich mittlerweile empfohlen.
“Kann ich noch mal Sven sprechen?”
“Er will dich aber nicht sprechen. Verschwinde.”
“Das muss aber sein. Es ist sehr wichtig!”
“Er will dich trotzdem nicht sprechen. Verschwinde, habe ich gesagt, oder ich mache dir Beine.”
Er hasste mich. Seine Augen zeigten es mir deutlich.
“Wenn er jetzt nicht rauskommt, darf er nie wieder meinen Hof betreten!”
“Das darf er ohnehin nicht mehr, weil ich es ihm verboten habe. Und du darfst meinen Hof nie wieder betreten, ist das klar?”
“Er lässt uns also im Stich?”
Das war keine Frage, sondern eine Drohung. Er nahm seinen frechen Blick von mir weg und machte kehrt. Dann kickte er zornig gegen einen Rosenbusch, machte zwei weiteren Schritte in Richtung Tor und spuckte auf die Pflastersteine. So was sieht man selten hier in Deutschland, ausser in Filmen. Zum Glück regnete es.
Ich hatte natürlich grosse Lust, ihm hinterher zu rennen. Ich stellte mir vor, wie ich ihn am Tor einhole und wie ich seine linke Hand packe und ihm den Arm auf den Rücken drehe, bis er in die Knie geht und mit der Stirn die nassen Steine berührt.
Ich tat jedoch nichts von alledem. Ich stand einfach da, noch eine Minute oder zwei, obwohl ich langsam nass wurde.
Mittlerweile war Marco mit seinem Fahrrad um die Ecke verschwunden. Er hätte mich auch dann nicht gehört, wenn ich gebrüllt hätte. Ich hörte mich heiser flüstern:
“Wenn du das noch mal machst, breche ich dir den Arm. Und wenn du Sven nicht in Ruhe lässt, breche ich dir noch sämtliche Knochen.”
Ich holte tief Luft ein. Aus irgendeinem Grund war ich jetzt sicher, wir würden nie wieder von ihm was hören.
“Na, da warst Du aber nahe dran, Selbstjustiz zu begehen” sagte abends Vera zu mir, als ich ihr die Geschichte erzählte. “Ein armes, unschuldiges Kind schlagen?” Ihre Stimme hatte einen bewusst falschen Unterton.
“In so einem Fall musst Du heutzutage nicht nur die Eltern, sondern auch das Jugendamt, die Polizei und den Bundesgrenzschutz dazu um Erlaubnis bitten.”
“Ich habe ihn doch gar nicht geschlagen, nur etwas gefaltet, um so zu sagen, ich meine das natürlich gedanklich. Aber hätte ich das wirklich getan, dann hoffe ich, ich hätte ihm dabei die Schulter auch wirklich ausgerenkt ” sagte ich böse.
Damit konnten wir den Fall abhacken. Wir zwei hatten, so stellte ich jetzt fest, auch in Bezug auf den Umgang mit Minderjährigen, eine sehr ähnliche Auffassung.