Nach Indianapolis über Guantanamo Bay

Bei jeder Reise gibt es einen Zeitpunkt, den ich als wirklichen Beginn der Reise empfinde. Bei einer Flugreise ist dies der Moment, wo ich mich am Abfluggate hinsetze und ein Buch aufschlage. Ich habe die ganze Hektik der Reisevorbereitungen, der Anreise mit dem Auto und der Formalitäten am Flughafen hinter mir, der Boardingpaß steckt in meiner Brusttasche. Ab jetzt gehört die Zeit nur mir, und sie ist ergiebig.

Diesmal war es ein wenig anders, denn ich reiste in Begleitung des Kollegen Brüderle. Wir warteten zusammen auf die Aufforderung zum Einsteigen und zogen genüßlich unsere Geschäftsführung durch den Kakao. Dies kann – unter uns gesagt – genausoviel Spaß machen, wie ein Buch zu lesen.

Und dann gab es die Ansage:

“Passagier Ulrich Brüderle, gebucht auf den Unitedflug UA 6352 nach Washington, wird gebeten, seinen Paß am Fluggate B34 abzuholen.”

“So ein Quatsch. Meinen Paß habe ich doch hier” sagte Ulli und zeigte auf seine Aktentasche. Er stand auf und ging zum Schalter, wo zwei Grenzbeamte auf ihn warteten. Er machte seine Aktentasche auf und zeigte seine Papiere. Der eine Beamte guckte sie sorgfältig durch, klappte sie wieder zusammen, behielt sie in der rechten Hand und deutete damit auf eine Tür links vom Schalter. Der Ulli drehte sich um und zeigte in meiner Richtung. Ich stand auf und ging mit seinem

Koffertrolly hin.

“Ich hatte aus Versehen den Paß meiner Frau dabei. Das muß erst geklärt werden” sagte er kleinlaut zu mir, nahm seinen Koffer mit und verschwand, flankiert von den zwei todernst dreinblickenden Beamten, durch die Seitentür.

Ich verstand nur Bahnhof. Wie konnte jemand mit dem Paß seiner Frau durch vier Kontrollen gelangen? Denn in der Zeit nach dem 11.9. gab es bei den amerikanischen Fluglinien eine zusätzliche Sicherheitskontrolle durch amerikanisches Personal schon vor dem eigentlichen Check-in. Anschließend wurde der Paß am Schalter, dann unmittelbar vor Beginn der Gepäckkontrolle und noch einmal bei der eigentlichen Paßkontrolle verlangt.

Da ich es partout nicht verstehen konnte, gab ich die Grübelei auf und fing an zu lesen.

Bald kam es zum Boarding. Ulli tauchte nicht auf.

In Washington, gleich nach dem freundlichen Empfang durch die Immigration, sprintete ich wie üblich zur Gepäckausgabe, brachte meinen Koffer durch den Zoll und gab ihn wieder ab, in der Hoffnung, ihn in Indianapolis wieder anzutreffen.Den Anschlußflug nach Indy erwischte ich dann Spitz auf Knopf. Ich verwünschte bei der Hetze unseren Firmenchef. Er hätte unsere amerikanische Tochterfirma an einem gescheiteren Ort ansiedeln sollen.

Im Hotel Radisson hinterließ ich an der Rezeption eine Nachricht, wo ich anzutreffen sei, und ging dann eine Kleinigkeit essen. Ulli tauchte nicht auf.

Als ich zurück ins Hotel kam, war er noch nicht da. Ich ging schlafen.

Am nächsten morgen zahlte ich noch vor dem Frühstück die Hotelrechnung und fragte erneut nach Ulli. Er war immer noch nicht da.

Er trat durch die Hoteleingangstür ein, als ich mit dem Frühstück schon fast fertig war. Er hatte seine Aktentasche in der Hand, zog seinen Koffertrolly apathisch hinter sich her und war sichtlich übernächtigt.

“Die haben mich zwei Stunden in Frankfurt festgehalten” erklärte er müde, während er sich einen Kaffee einschenkte. “Sie wollten einfach nicht glauben, daß ich mit dem Paß meiner Frau durch alle Kontrollen durch bin. ‘Wie sind Sie

überhaupt zum Gate gekommen?’ haben sie immer wieder gefragt. Zum Glück hat mir meine Frau den Paß zum Flughafen geschickt, sonst hätte niemand etwas gemerkt und ich wäre noch mit ihrem Paß in die Staaten eingereist. Kannst Dir das vorstellen? Die hätten mich gleich nach Guantanamo weiterfliegen lassen.”

“Wie bist Du dann geflogen?”

“Ich wurde auf die letzte Maschine nach Chicago gebucht. Der Anschlußflug fiel leider wegen Triebwerkschaden aus, kommt Dir bestimmt bekannt vor, so habe ich mir einen Mietwagen besorgt. Ich war gegen zwei Uhr nachts schon in Indy.”

“Hä? Wie denn? Wo hast Du übernachtet?”

“Auf dem Polizeirevier. Ich habe auf dem Interstate die richtige Ausfahrt verpaßt und habe gewendet. Dabei fuhr ich sozusagen einem Polizeiwagen direkt in die Arme.”

“Das waren aber ziemlich humorlose Gesellen.”

“Da täuschst Du Dich aber. Die hätten mich bestimmt nach einer Moralpredigt ziehen lassen, ich habe ihnen aber aus Versehen den Paß meiner Frau gezeigt und mußte dann auf dem Revier die ganze Geschichte ein paar mal erzählen. Sie fanden sie nach und nach zum Totlachen. Ihr Chef heute morgen auch.”

“Gib den Autoschlüssel und den Paß Deiner Frau her und häng Dich an meinen Rockzipfel” sagte ich zu ihm. “Du hast einfach eine Pechsträhne.”

Er hatte nicht viel Lust, mir zu widersprechen. Wir fuhren dann zum Firmensitz in der Hague Road, wo wir unsere zwei Meetings absolvierten. Er schlief friedlich ein. Ich mußte ihn lediglich einige male kurz wecken, bevor wir abends wieder zum Flughafen fuhren.