“Aha. Sie sind also doch hier.” Eine volle, durchdringende, dennoch angenehme Tenorstimme.
Winkel, der Produktionsleiter, stand in der offenen Tür meines Büros und blickte mich mit seinen blaugrauen Augen kalt an. Er war groß, hager und elegant. Nach hinten gekämmtes, welliges Haar betonte die hohe Stirn. Die Hackennase milderte ein wenig das von den Augen vermittelte Gefühl der Härte, die schmalen Lippen machten diesen positiven Effekt jedoch zunichte. Sein Kinn war spitz und etwas vorstehend, es hatte dennoch ein Grübchen. Seine gesamte Gestalt war scharf wie ein Rasiermesser, und genauso gefährlich war er auch. Wegen seiner Fähigkeit, alles wichtige souverän vom Tisch zu fegen, wenn es ihm nicht paßte, wurde er von einem Managementberater “Bedeutungsplanierer” genannt.
Er war Österreicher. “Deutschland hat drei große Österreicher gehabt” soll er mal gesagt haben, “ich bin der Dritte”. Mit dem Zweiten war -so viel ich wusste- Ferdinand Porsche gemeint.
Ich stand auf, um ihm entgegenzutreten.
Er kam aber selbst um meinen Schreibtisch herum und langte zum Telefon.
“Sie erlauben.”
Dabei wurde ich in die Ecke zwischen der Wand und dem Fenster gedrängt.
“Öttel will uns beide zu den reklamierten Sensoren sehen. Seit Jahren sage ich, daß dieses Produkt nicht anständig zu Ende entwickelt wurde. So was kann man gar nicht produzieren. Jetzt haben wir‘s.”
Er setzte sich in meinen Bürosessel und wählte. Während er in die Muschel sprach, fixierten mich seine Augen unentwegt.
“Hallo Frau Nagel! Hier ist Winkel Ich habe ihn endlich aufgetrieben. Wann können wir kommen? Ja doch, halb drei ist perfekt. Danke, bis dann.”
Mit einer kurzen, eleganten und sehr effizient wirkenden Bewegung der Hand mit dem Hörer, schwang er die Telefonschnur zurecht, während er auflegte. Dann nahm er endlich seinen Blick von mir weg, stand einfach auf und ging. An der Tür angelangt, drehte er sich noch kurz um, bevor er verschwand: “Sie haben gehört, halb drei. Seien Sie pünktlich.”
Endlich aufgetrieben? Natürlich war ich die ganze Zeit in meinem Büro, zwei Türen oder einen Telefonanruf von seinem Büro entfernt.
Um halb drei war ich pünktlich bei Öttel und wurde prompt zu ihm hereingelassen. Er war Vorstandsmitglied und der am meisten befürchtete Mann in der Firma, ein absoluter Choleriker. Es wurde ihm nachgesagt, daß er des öfteren mitten in einer Besprechung eine Führungskraft entlassen hatte. Einen solchen Fall hatte ich trotz kurzer Betriebszugehörigkeit sogar selbst erlebt. Öttel war trotz allem der beste Industriemanager, den ich kannte. Man kam an seiner urtümlichen Kraft und an seinem scharfen Verstand ebensowenig vorbei, wie an der Chinesischen Mauer. Mich konnte er aus irgendeinem Grund besonders gut leiden, vielleicht wegen meiner höflichen Respektlosigkeit.
“Kommen Sie rein. Setzen Sie sich.”
Mit der Zigarre in der Hand deutete er auf den Besprechungstisch, dann kam er selbst rüber. Seine massige Gestalt strahlte Autorität aus, seine Kleidung war konservativ und wie immer von unaufdringlicher Qualität. Er nagelte mich sofort mit seinem Blick in den Stuhl fest.
“Da sind Sie ja. Winkel kommt auch noch. Was ist mit diesen verdammten Sensoren los?”
“Eindeutig Produktionsfehler, Herr Öttel Das Mischungsverhältnis der Vergußmasse war falsch eingestellt”.
“Aha. Dann ist der Schwarze Peter ausnahmsweise da, wo er hingehört. Wer hat das untersucht?”
“Zwei von meinen Leuten, Busack und Karoß”
“Ach so. Dann brauche ich wohl nicht zu fragen, wie sicher das ist”.
Er grinste mich an, ich grinste zurück.
“Wohl kaum. Die einzige gute Nachricht ist, daß wir die Ware nacharbeiten können. Dies wird allerdings die Produktion in den nächsten drei Monaten ziemlich durcheinanderbringen.”
“Das wird Winkel gar nicht gefallen. Was kostet uns der Spaß? Alles in allem, grobe Schätzung, hm?”
“Um die fünf Millionen. Wenn wir’s aber anständig machen, bleibt Hewlett Packard bei der Stange. Ansonsten weiß ich nicht. Die sind mächtig sauer.”
“Hm. Hm. Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, was? O.K., machen Sie’s so. Ziehen Sie es sofort projektmäßig durch. Ich mache Sie dafür verantwortlich, egal wer das Projekt leitet. Winkel wird Sie mit seinen Leuten unterstützen, dafür werde ich schon sorgen. Spannen Sie aber auch Arbeitsvorbereitung, Qualitätssicherung und Versuchswerkstatt mit ein, klar?”
Dem war wie immer bei seinen Anweisungen nicht mehr viel hinzuzufügen.
Daraufhin kam wie auf Stichwort Winkel herein und entschuldigte sich für die zehnminütige Verspätung, ohne jedoch einen Grund anzugeben. Er wurde dann von Öttel in knappen Worten über die Beschlußlage informiert. Winkel war ein wirklicher Vollprofi. Er verzog keine Miene und pflichtete Öttel sofort bei allen angesprochenen Maßnahmen bei. So waren wir nach etwa einer weiteren halben Stunde durch alle Details durch.
Dann gingen wir zusammen, Winkel und ich, den ganzen Weg zu unserem Gebäude zurück, etwa zehn Minuten lang. Unterwegs haben wir freundschaftlich über dies und jenes geplaudert. Er trug mir offenbar nichts nach, obwohl er geschlagene zehn Minuten in seinem Büro auf mich gewartet hatte, in der Überzeugung, daß ich ihn abhole, um gemeinsam zur Besprechung mit Öttel zu gehen.
Daß er nicht nachtragend war, basierte jedoch nicht auf seinem sportlichen Geist. Er ignorierte wie immer konsequent alles, was ihm nicht paßte.
Warum sollte er mir also etwas nachtragen? Es hatte keinen Kampf gegeben, also konnte er keine Niederlage erleiden. Und außerdem existierte ich als Gegner ohnehin nicht. Meine Stellung im Unternehmen war viel zu niedrig.